Erfahrungen
Erlebnisse in einem Altenheim – Ernst-Martin Krauss
Früher hätte ich gesagt: „Altenheim? – Nein danke! Da gehe ich nie freiwillig rein. Das tue ich mir nicht an.“ Dann aber kam die Zumutung ganz unversehens und ohne Ausweichmöglichkeit: Meine 93- jährige Mutter war gestürzt und als Folge davon zu einem – wie man so hässlich sagt – Pflegefall geworden. Und nun war ich plötzlich in einem Altenheim, zwar nicht als Bewohner, aber doch als ständiger Besucher etwa 3 Jahre bis zum Tod meiner Mutter.
Mit welch’ widerstrebenden Gefühlen ging ich am Anfang in dieses Heim! Leidend am Leib meiner Mutter, leidend an all’ dem , was ich nun fortwährend an unabänderlicher menschlicher Not gleichsam im Vorbeigehen mit ansah. Konnte ich daran vorbeigehen? Wenn ich vor mir bestehen wollte, wohl kaum. Denn in jedem Alten, in jedem Leidenden begegnete ich einem Menschen. Ich konnte mich angesichts dieser Tatsache nicht einfach zumachen und so tun, als ob ich nichts gesehen hätte.
Und so kam es, dass sich zwischen mir und den Menschen, denen ich da regelmäßig am Eingang, in den Fluren, beim Mittagessen begegnete, gewisse schlichte Beziehungen ergaben, die stets das unmittelbar – Menschliche betrafen, die ganz ohne Schminke, also wahr waren. Es hat lange gedauert, bis ich begriff, wessen ich da teilhaftig wurde: dass ich nämlich von diesen stillen Menschen, ohne dass sie es wussten, beschenkt wurde. Das vordergründige Bild des Alten, Gebrechlichen schwand mehr und mehr dahin und dahinter zeigten sich mir Menschen, die darum rangen, ihr Schicksal anzunehmen, die oftmals scheinbar nicht verstanden und die doch mit ihrem stillen Dasein ein nicht in Worten ausdrückbares Verstehen und Annehmen ihres Geschicks darlebten. Das griff ans Herz.
Wie so ganz anders war also binnen kurzer Zeit mein Verständnis zum Phänomen Altenheim geworden! Nicht, dass es mir leicht fiel, in das Altenheim zu gehen. Aber ich ging hin in dem Bewusstsein: Hier wird an den großen Menschheitsfragen gearbeitet: gearbeitet nicht so, wie man sich arbeiten gewöhnlich vorstellt, sondern in stiller realer und daher wahrer Seelenarbeit: Was heißt es, Mensch zu sein? Was ist der Sinn des Ganzen? An der Beantwortung dieser Fragen arbeitet hier jeder existentiell, bewusst oder unbewusst.
Ja, und zu meiner großen Überraschung sind die Bewohner dieses Altenheims nicht die einzigen, die hier um das Menschsein, um die Aufrechterhaltung der Würde des Menschen, um den Sinn des Lebens ringen: Die Schwestern und Pfleger tun es gleichermaßen! Zu sehen mit welcher gleich bleibender Menschenliebe und Menschenachtung sie ihren schweren, so unbeachteten Dienst vollziehen, das war ebenso ergreifend wie erhebend zu erleben. Man kann ja einen Dienst so oder so verrichten; man kann ihn entweder gleichgültig, unbezogen, vielleicht sogar schlecht gelaunt „ableisten“ oder man kann ihn so vollziehen, dass das, was man tut, einen persönlich angeht, dass man also beteiligt ist, ja dass man teilnimmt. Letzteres erlebte ich bei allen Mitarbeitern des Alten- und Pflegeheims Herrenhaus Lindau, denn um dieses handelt es, von dem ich hier berichte. Selbst wenn schon zum 4. Mal an einem Tag das Bett neu bezogen werden musste, ging ihnen die Ehrfurcht vor der Würde des zu Pflegenden nicht abhanden. Natürlich menschelt es auch hier gelegentlich, aber das alles Übertönende ist doch stets die Ehrfurcht vor und die Liebe zu den Menschen. Ich staunte und bewunderte nur immer.
Dass hier im Alten- und Pflegeheim Herrenhaus Lindau solche Liebesdienste tagein, tagaus und natürlich auch nachts vollzogen werden, ist selbstverständlich nur möglich, weil die Leitung des Heims eine entsprechende innere Haltung hat: Frau Busam will Alten und Gebrechlichen, so weit es in ihrer Macht steht, wohl tun, will dazu beitragen, dass die Menschenwürde geehrt wird gerade dort, wo sie leicht verloren gehen kann, nämlich beim Hilfsbedürftigen, beim Alten. Ja, und wie immer wenn einer so etwas wirklich will und seine Existenz damit verbindet, stellen sich weitere Menschen ein, die ein Gleiches wollen, hier also das Pflegekollegium.
Das Alten- und Pflegeheim Herrenhaus Lindau ist kein Heim, in dem alles vom Modernsten und Gelacktesten ist, wie wir es so gerne haben, um das weniger Gelackte des Lebens möglichst nicht an uns herankommen zu lassen. Gewiss, ein solches modernes Heim ist es nicht. Dafür aber hat es menschliche wohltuende Wärme in allen Räumen. Die ist – das konnte ich hier unabweisbar erleben – kostbarer, wertvoller als so mancher teure Lack. Diese menschliche Wärme ist es, auf die es an einem solchen Ort so Notwendig ankommt. Und das Wunderbare ist, dass sie hier in Lindau tatsächlich stets von Neuem erzeugt wird. – Das Alten- und Pflegeheim Herrenhaus Lindau ist auch noch in anderer Hinsicht unmodern: Es lässt sich nämlich nicht jeden Handgriff bezahlen. Nein, die meisten Handreichungen werden so, als sei dies das Selbstverständlichste der Welt, umsonst gegeben – nur aus Liebe! Wo gibt es das noch?
Wie ein Wirbelwind war es über uns gekommen, über meine Mutter in erster Linie, dann auch über meine Schwestern und mich, diese Einweisung ins Altenheim. Hilflos waren wir zunächst. Und dabei wussten wir doch: Jetzt kommt es drauf an. Jetzt geht es um den Abschluss eines Lebens. Wird es möglich werden, die aufdringlichen und niederdrücken wollenden Widrigkeiten des Sterbens nicht tonangebend werden zu lassen, sondern dieses Abschiednehmen würdig und sinnerfüllt zu vollziehen? So etwas – das weiß ja im Grunde jeder – ist sehr angewiesen auf eine entsprechende menschliche und räumliche Umgebung. Mit dieser Heimleiterin, mit diesen Schwestern und Pflegern, in diesem Heim wurde es möglich.